Traum und Wirklichkeit

Hannah Höch – Traumnacht (Dream Night) 1943-46

Der Traum ist seit der Antike ein wichtiges Motiv in der Welt der Literatur. Das Traum-Motiv ist nicht an bestimmte Gattungen gebunden: In Epik, Lyrik und Drama spielt es gleichermaßen eine bedeutsame Rolle. Hervorzuheben ist der antike Heiltraum. Der Heiltraum im Tempel, war ein dem Gott Asklepios zugewandtes Heilverfahren.

„Die Wachen haben alle eine einzige gemeinsame Welt, im Schlaf wendet sich jeder der eigenen zu.“ Heraklit

Das Traum-Motiv taucht in einzelnen Literatur-Epochen besonders häufig auf, z.B. in der Zeit der Romantik. Aber auch Expressionismus und Surrealismus sind außergewöhnlich reich an traumhaften und visionären Elementen.

Mit Texten von Joseph Conrad, Georg Heym, Edgar Allan Poe, Heinrich Heine, Fernando Pessoa, Walter Benjamin, Arthur Schnitzler, Richard Dehmel, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Francisca Stoecklin, Wilhelm Busch, Heraklit, Christian Friedrich Hebbel, Erich Mühsam, Anna Ritter, Karl Kraus, Johann Wolfgang von Goethe, Jean Paul, Heiner Müller, Paul Verlaine, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Elias Cannetti, Karl Mayer, Marie von Ebner-Eschenbach und vielen anderen mehr. Diese Seite wird laufend aktualisiert.


Der Traum
Ich lag und schlief; da träumte mir
ein wunderschöner Traum:
Es stand auf unserm Tisch vor mir
ein hoher Weihnachtsbaum.

Und bunte Lichter ohne Zahl,
die brannten ringsumher;
die Zweige waren allzumal
von goldnen Äpfeln schwer.

Und Zuckerpuppen hingen dran;
das war mal eine Pracht!
Da gab’s, was ich nur wünschen kann
und was mir Freude macht.

Und als ich nach dem Baume sah
und ganz verwundert stand,
nach einem Apfel griff ich da,
und alles, alles schwand.

Da wacht‘ ich auf aus meinem Traum,
und dunkel war’s um mich.
Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,
sag an, wo find‘ ich dich?

Da war es just, als rief er mir:
„Du darfst nur artig sein;
dann steh‘ ich wiederum vor dir;
jetzt aber schlaf nur ein!

Und wenn du folgst und artig bist,
dann ist erfüllt dein Traum,
dann bringet dir der heil’ge Christ
den schönsten Weihnachtsbaum.
Heinrich Hoffmann von Fallersleben

dream-of-a-rarebit-fiend-1906
Dream of a Rarebit Fiend (1906)

Träumer
Nenne dich nicht arm,
weil deine Träume nicht
in Erfüllung gegangen sind;
wirklich arm ist nur,
der nie geträumt hat.
Marie von Ebner-Eschenbach


Der Traum
im Traum
träumte

er sei nur ein
Traum im
Traum

der träumte

er sei
ein
Traum

der
träumte
Georges Ettlin

Markus Selg – Encounter of Dreams, 2014 © Galerie Christine Mayer

Ein Traum in einem Traum
Auf die Stirn dir diesen Kuß!
und da ich nun scheiden muß,
sag‘ dies ich nur zum Schluß:
Ganz recht hat eure Klage,
daß ein Traum warn meine Tage;
doch ob nun die Hoffnung froh
bei Tag, bei Nacht, ob irgendwo
in Schlafgesichten, müdem Sinnen,
ist sie darum nicht von hinnen?
Was wir scheinen und schaun im Raum,
ist nur ein Traum in einem Traum.

Im Brandungsbrüllen steh‘
ich an küstenquälender See,
und ich halte in der Hand
Körner vom goldenen Sand-
wie wenige! doch sie rinnen
durch die Finger mir von hinnen,
und ich weine – wie von Sinnen!
Kann ich nicht dichter falten
die Hände, sie zu halten?
O Gott! wie rette ich schier
nur eins vor der Welle Gier?
Ist, was wir scheinen und schaun im Raum,
nur ein Traum in einem Traum?
Edgar Allan Poe

Dieter Motzel – Nachtmahr, 2016

O Traum, der mich entzücket!
Was hab ich nicht erblicket!
Ich warf die müden Glieder
In einem Thale nieder,
Wo einen Teich, der silbern floß,
Ein schattigtes Gebüsch umschloß.

Da sah ich durch die Sträuche
Mein Mädchen bey dem Teiche.
Das hatte sich, zum Baden,
Der Kleider meist entladen,
Bis auf ein untreu weiß Gewand,
Das keinem Lüftgen widerstand.

Der freye Busen lachte,
Den Jugend reizend machte.
Mein Blick blieb sehnend stehen
Bey diesen regen Höhen,
Wo Zephyr unter Lilien blies
Und sich die Wollust greifen ließ.

Sie fieng nun an, o Freuden!
Sich vollends auszukleiden;
Doch, ach! indems geschiehet,
Erwach ich und sie fliehet.
O schlief ich doch von neuem ein!
Nun wird sie wohl im Wasser seyn.
Johann Peter Uz

Yasuo Kuniyoshi – Traum, 1922

Im süßen Traum, bei stiller Nacht,
Da kam zu mir, mit Zaubermacht,
Mit Zaubermacht, die Liebste mein,
Sie kam zu mir ins Kämmerlein.

Ich schau sie an, das holde Bild!
Ich schau sie an, sie lächelt mild,
Und lächelt, bis das Herz mir schwoll,
Und stürmisch kühn das Wort entquoll:

„Nimm hin, nimm alles, was ich hab,
Mein Liebstes tret ich gern dir ab,
Dürft ich dafür dein Buhle sein,
Von Mitternacht bis Hahnenschrein.“

Da staunt‘ mich an gar seltsamlich,
So lieb, so weh und inniglich,
Und sprach zu mir die schöne Maid:
„Oh, gib mir deine Seligkeit!“

„Mein Leben süß, mein junges Blut,
Gäb ich, mit Freud‘ und wohlgemut,
Für dich, o Mädchen, engelgleich –
Doch nimmermehr das Himmelreich.“

Wohl braust hervor mein rasches Wort,
Doch blühet schöner immerfort,
Und immer spricht die schöne Maid:
„Oh, gib mir deine Seligkeit!“

Dumpf dröhnt dies Wort mir ins Gehör,
Und schleudert mir ein Glutenmeer
Wohl in der Seele tiefsten Raum;
Ich atme schwer, ich atme kaum. –

Das waren weiße Engelein,
Umglänzt von goldnem Glorienschein;
Nun aber stürmte wild herauf
Ein gräulich schwarzer Koboldhauf‘.

Die rangen mit den Engelein,
Und drängten fort die Engelein;
Und endlich auch die schwarze Schar
In Nebelduft zerronnen war. –

Ich aber wollt in Lust vergehn,
Ich hielt im Arm mein Liebchen schön;
Sie schmiegt sich an mich wie ein Reh,
Doch weint sie auch mit bitterm Weh.

Feins Liebchen weint; ich weiß warum,
Und küß ihr Rosenmündlein stumm. –
„O still, feins Lieb, die Tränenflut,
Ergib dich meiner Liebesglut!

Ergib dich meiner Liebesglut-“
Da plötzlich starrt zu Eis mein Blut;
Laut bebet auf der Erde Grund,
Und öffnet gähnend sich ein Schlund.

Und aus dem schwarzen Schlunde steigt
Die schwarze Schar; – feins Lieb erbleicht!
Aus meinen Armen schwand feins Lieb;
Ich ganz alleine stehenblieb.

Da tanzt im Kreise wunderbar,
Um mich herum, die schwarze Schar,
Und drängt heran, erfaßt mich bald,
und gellend Hohngelächter schallt.

Und immer enger wird der Kreis,
Und immer summt die Schauerweis‘:
„Du gabest hin die Seligkeit,
Gehörst uns nun in Ewigkeit!“
Heinrich Heine

Francisco de Goya - The Dreamjpg

Francisco de Goya – Der Traum

Träumerei in Hellblau
Alle Landschaften haben
Sich mit Blau gefüllt.
Alle Büsche und Bäume des Stromes,
Der weit in den Norden schwillt.

Blaue Länder der Wolken,
Weiße Segel dicht,
Die Gestade des Himmels in Fernen
Zergehen in Wind und Licht.

Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.

Zymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern, und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.
Georg Heym

Paul Klee – Starker Traum, 1929

Träume
Sag‘, welch‘ wunderbare Träume
Halten meinen Sinn umfangen,
Daß sie nicht wie leere Schäume
Sind in ödes Nichts vergangen?

Träume, die in jeder Stunde,
Jedem Tage schöner blühn,
Und mit ihrer Himmelskunde
Selig durchs Gemüte ziehn?

Träume, die wie hehre Strahlen
In die Seele sich versenken,
Dort ein ewig Bild zu malen:
Allvergessen, Eingedenken!

Träume, wie wenn Frühlingssonne
Aus dem Schnee die Blüten küßt,
Daß zu nie geahnter Wonne
Sie der neue Tag begrüßt,

Daß sie wachsen, daß sie blühen,
Träumend spenden ihren Duft,
Sanft an deiner Brust verglühen,
Und dann sinken in die Gruft.
Mathilde Wesendonck


Das Tor der Träume
In sanften Angeln geht das Tor der Träume;
Mit Fingern eines Blinden tastest du
Dem leichten Riegel an dem Tore zu
Durch lange Gänge und durch weite Räume.

Im offnen Tor der Wunder und der Träume
Wird leicht dein Fuß, als trüg‘ er Flügelschuh‘,
Und auf beglückten Sohlen wandelst du,
Verwirrt und klar, im Schatten heiliger Bäume.

Der Garten winkt; das Paradies! Und hier –
Eva, bist du’s? Mein Wunsch, mein Traum, mein Glück,
Im schlanken Ebenmaß der jungen Glieder? –

„Ich bin’s!“ – Ein Wirbelsturm reißt dich zu ihr
Und hebt dich hoch und schleudert dich zurück, –
Und vor dem Tor der Träume sinkst du nieder!
Hugo Salus


Nun geh zur Ruh!
Es ist schon spät,
Nun träume deinen Traum,
Die Welt ist gut,
Die Nacht ist kurz.
Nun träume deinen Traum
Von Liebeslust
Und Seligkeit
Und freundlichen guten Augen
Träume! Träume
Von allen denen,
Die du liebst,
Damit sie dich
Auch lieben –
Paul Scheerbart

Jāzeps Grosvalds – Pfad der Alpträume, 1916

’s ist Mitternacht!
Der eine schläft, der andre wacht.
Er schaut beim blauen Mondenlicht
Dem Schläfer still ins Angesicht;
Drin tut ein böser Traum sich kund,
Wie seltsam zuckt er mit dem Mund!
’s ist Mitternacht!
Der eine schläft, der andre wacht.

’s ist Mitternacht!
Der eine schläft, der andre wacht.
»So sah der Freund noch nimmer aus,
Er greift zum Dolch, es macht mir Graus,
Er stöhnt, er lacht – du triffst ja mich!
Erwache doch, ich rüttle dich!«
’s ist Mitternacht!
Der andre ist nur halb erwacht.

’s ist Mitternacht!
Der andre ist nur halb erwacht!
Er stiert, er ruft: so lebst du noch,
Verruchter, und ich traf dich doch?
So nimm noch den! Hei! der war gut!
Warm spritzt mir ins Gesicht dein Blut!
’s ist Mitternacht!
Nun schlafen beide, keiner wacht.

’s ist Mitternacht!
Sie schlafen beide, keiner wacht!
Du wüste Eul‘ im Eibenbaum,
Du krächztest ihn in diesen Traum,
Nun fängt die häm’sche Dohle an,
Ob sie ihn nicht erwecken kann.
’s ist Mitternacht!
Gott gebe, daß er nie erwacht!
Friedrich Hebbel

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Die Farben des Traums
Azurne Falter, goldne Käfer,
Ein Busch von jungerblühten Rosen!
Nimm ihre Farben mit, o Schäfer,
In deines Traumes stilles Kosen..
Karl Mayer


Martin Luther King – I have a dream, 28. August 1963


Zwischen Schlaf und Traum,
Zwischen mir und was in mir ist
Und was ich vermute zu sein,
Fließt ein unendlicher Fluss.
Fernando Pessoa


Schlafen ist Verdauen der sinnlichen Eindrücke und Bewegungen. Wachen ist Essen von abstraktem Träume entstehen durch die wurmförmige Bewegung der Eindrücke in den Eingeweiden des Gehirns. Waches Träumen ist der höchste Zustand, wird auch immer seelig genannt.
Friederich Schlegel


Der geheimnisvolle Nachen
Gestern Nachts, als Alles schlief,
Kaum der Wind mit ungewissen
Seufzern durch die Gassen lief,
Gab mir Ruhe nicht das Kissen,
Noch der Mohn, noch, was sonst tief
Schlafen macht, – ein gut Gewissen.

Endlich schlug ich mir den Schlaf
Aus dem Sinn und lief zum Strande.
Mondhell war’s und mild, – ich traf
Mann und Kahn auf warmem Sande,
Schläfrig beide, Hirt und Schaf: –
Schläfrig stiess der Kahn vom Lande.

Eine Stunde, leicht auch zwei,
Oder war’s ein Jahr? – da sanken
Plötzlich mir Sinn und Gedanken
In ein ew’ges Einerlei,
Und ein Abgrund ohne Schranken
That sich auf: – da war’s vorbei!

– Morgen kam: auf schwarzen Tiefen
Steht ein Kahn und ruht und ruht…
Was geschah? so rief’s, so riefen
Hundert bald: was gab es? Blut? – –
Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen
Alle – ach, so gut! so gut!
Friedrich Nietzsche

Umberto Boccioni – Der Traum (Paolo und Francesca), 1909 Collezione Palazzoli, Mailand

Schlafe! Die Erde wird milder.
Warte, der Traum tritt schon ein.
Blühen werden die Bilder
Des Traumes in sanfterem Schein.

Wissen wir je von Gefährten,
Sind sie nicht Trugbild zuletzt?
Sind wir erfüllt vom Begehrten,
Das uns so müde gehetzt?

Wähntest du Dasein, das eben
Dich noch verwirrend bedrängt?
Traum wird das wahre dir weben.
Schleier des Schlafes sich senkt.

Glanz der Gefühle wird steigen,
Die uns im Leben erstarrt:
Ferne und freundlicher Reigen,
Heimat und heldische Fahrt.

Die wir im Leben nicht finden,
Stehen uns nah und geneigt.
Schlage! Du wirst überwinden,
Da Traum dir das Letzte gezeigt.
Fred von Zollikofer


Der Traum ist ein Weib, das schwatzen muss, der Schlaf ist ein Gatte, der schweigend duldet.
Rabindranath Tagore


Wünschelruthe
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Joseph von Eichendorff

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Rafael Zabaleta – Surrealistischer Traum

Dir ist die Erde noch verschlossen,
du hast noch keine Lust genossen,
noch ist kein Glück, was du empfingst.

Wie könntest du so süß denn träumen,
wenn du nicht noch in jenen Räumen,
woher du kamest, dich ergingst?
Christian Friedrich Hebbel


Heil’ge Nacht, du sinkest nieder;
Nieder wallen auch die Träume
Wie dein Mondlicht durch die Räume,
Lieblich durch der Menschen Brust.

Die belauschen sie mit Lust;
Rufen, wenn der Tag erwacht:
Kehre wieder, heil’ge Nacht!
Holde Träume, kehret wieder!
Matthäus Kasimir von Collin


Meine Zeit teile ich so ein: die eine Hälfte verschlafe ich, die andere verträume ich. Wenn ich schlafe, so träume ich nie. Das wäre Sünde. Schlafen ist die höchste Genialität.
Søren Kierkegaard

Henri Rousseau – Traum, 1910

Träume
Sag‘, welch‘ wunderbare Träume
Halten meinen Sinn umfangen,
Daß sie nicht wie leere Schäume
Sind in ödes Nichts vergangen?

Träume, die in jeder Stunde,
Jedem Tage schöner blühn,
Und mit ihrer Himmelskunde
Selig durchs Gemüte ziehn?

Träume, die wie hehre Strahlen
In die Seele sich versenken,
Dort ein ewig Bild zu malen:
Allvergessen, Eingedenken!

Träume, wie wenn Frühlingssonne
Aus dem Schnee die Blüten küßt,
Daß zu nie geahnter Wonne
Sie der neue Tag begrüßt,

Daß sie wachsen, daß sie blühen,
Träumend spenden ihren Duft,
Sanft an deiner Brust verglühen,
Und dann sinken in die Gruft.
Mathilde Wesendonck


Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.
Elias Canetti


Ach, was bin ich aufgewacht?
Ob am Haus die Liebste klopft?
Leise tönt es durch die Nacht. –
»Schlaf nur ein,
Schlaf nur ein!
Regen an die Scheiben tropft.«

Warum klingt mir doch das Ohr?
Spricht von mir das falsche Kind,
Das mich aus dem Sinn verlor? –
»Schlaf nur ein,
Schlaf nur ein!
Herdenglocken rührt der Wind.«

Und sie sah im Traum mich an,
Und sie sprach: Du glaubst es kaum,
Was ich leide, süßer Mann! –
»Schlaf nur ein,
Schlaf nur ein!
Schlaf ihn aus, den falschen Traum!«
Paul Heyse

Psst
Träume deine Träume in Ruh.
Wenn du niemandem mehr traust,
Schließe die Türen zu,
Auch deine Fenster,
Damit du nichts mehr schaust.
Sei still in deiner Stille,
Wie wenn dich niemand sieht.
Auch was dann geschieht,
Ist nicht dein Wille.
Und im dunkelsten Schatten
Lies das Buch ohne Wort.
Was wir haben, was wir hatten,
Was wir …
Eines Morgens ist alles fort.
Joachim Ringelnatz

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Balthus – Der Traum, 1955

Helle Nacht

Weich küßt die Zweige
der weiße Mond;
ein Flüstern wohnt
im Laub, als neige,
als schweige sich der Hain zur Ruh-
Geliebte du.

Der Weiher ruht,
und die Weide schimmert.
Ihr Schatten flimmert
in seiner Flut,
und der Wind weint in den Bäumen.
Wir träumen….träumen.

Die Weiden leuchten
Beruhigung;
die Niederung
hebt bleich den feuchten
Schleier hin zum Himmelssaum –
oh hin – oh Traum.
Paul Verlaine


Im Traumhaus
Wir sind des Traumes Gäste,
wir feiern stille Feste
in seinem goldnen Haus:
Die Tische stehn voll Früchte,
die Wände stehn im Lichte,
die Fenster im Gebraus.

Willst du die Früchte essen,
die du so nah besessen,
zerfallen sie zu Staub.
Die hellen Wände weichen,
und alle Lichter bleichen
und blättern ab wie Laub.

Der blaue Mond verwittert,
der Wein ist dir verbittert,
das Gold des Bechers blind.
Und du begehrst, wir fänden
den Schlaf, in dessen Händen
die ewigen Träumer sind.
Leo Greiner

Le Corbusier – I was dreaming first version, 1953

Das Leben ist ein Traum!
Das Leben ist ein Traum!
Wir schlüpfen in die Welt und schweben
Mit jungem Zehn
Und frischem Gaum
Auf ihrem Wehn
Und ihrem Schaum,
Bis wir nicht mehr an Erde kleben:
Und dann, was ist’s, was ist das Leben?
Das Leben ist ein Traum!
Das Leben ist ein Traum!
Wir lieben, uns’re Herzen schlagen,
Und Herz an Herz
Geschmolzen kaum,
Ist Lieb’ und Scherz
Ein lichter Schaum,
Ist hingeschwunden, weggetragen!
Was ist das Leben? hör’ ich fragen:
Das Leben ist ein Traum!
Das Leben ist ein Traum!
Wir denken, zweifeln, werden Weise;
Wir teilen ein
In Art und Raum,
In Licht und Schein,
In Kraut und Baum,
Studieren und gewinnen Preise;
Dann, nah’ am Grabe, sagen Greise:
Das Leben ist ein Traum!
Johann Wilhelm Ludwig Gleim


Mir kommt’s vor, als versuche ich euch einen Traum zu erzählen – ein vergeblicher Versuch, weil das Erzählen eines Traums nie das Traumgefühl selbst weitergeben kann, jene Mischung aus Widersinn, Staunen und Verwirrung, gegen die man sich in verzweifelten Zuckungen auflehnt, jenes Gefühl, gefesselt zu sein vom Unfasslichen, das das eigentliche Wesen des Traums ist.
Joseph Conrad

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Max Ernst, Der Hausengel, 1937, Pinakothek der Moderne München © VG Bild-Kunst

Doch Träume sind Begierden ohne Mut, sind
freche Wünsche, die das Licht des Tags zurück-
jagt in die Winkel unserer Seele, daraus sie
erst bei Nacht zu kriechen wagen.
Arthur Schnitzler


Die Kunst des Träumens ist schwer, denn sie ist eine Kunst der Passivität, in der wir unser Bemühen darauf konzentrieren, uns nicht zu bemühen.
Fernando Pessoa


Was kannst du gegen Träume, Mensch, die tückisch
selbst auch den Männlichsten mit Engelshänden
oder mit Teufelsfäusten in den Himmel
samt Hölle seines Kinderglaubens führen?
In solchem Traum erschien mir heute Nacht
der böse Feind und sah mich furchtbar an.
Er hatte das Gesicht von einem Freunde,
mit dessen Weib ich einiger bin als er,
und setzte auf mein wehrlos Herz ein Messer
und sprach – nein, was er sprach, vergaß ich schon.
Er sah mit Wollust, wie die rostige Spitze
auf meiner Haut im Takte meiner Pulse
sich hob und senkte, sah mich gierig an.
Ich aber bohrte meine blauen Augen
in seine braunen tief empor und sagte:
Wenn du mich kenntest, zögertest du nicht.[108]
Und als sein Blick ineins mit meinem sank
und bläulich wurde, dacht‘ ich: Wärst du nicht
der böse Feind, so müßtest du mich lieben,
ich habe dich von einer Last erlöst.
Was ich dir nahm, ist niemals dein gewesen;
was du mir nehmen kannst, war niemals mein.
Doch wenn du mußt, so töte mich! mein Tod
wird dir viel weher thun als je mein Leben,
das Keinem weher that als mir. Wach auf!
Richard Dehmel

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Conroy Maddox – The museum of dreams, 1972

Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren, war das nicht das erste Reisesignal? Drang er nicht in die Kindheit voller Erwartung wie später in die Nacht eines Publikums der Lichtstreif unter dem Bühnenvorhang? Ich glaube, das Traumschiff, das einen damals abholte, ist oft über den Lärm der Gesprächswogen und die Gischt des Tellergeklappers vor unsere Betten geschwankt, und am frühen Morgen hat es uns abgesetzt, fiebrig, als wenn wir die Fahrt schon hinter uns hätten, die wir eben erst antreten sollten.
Walter Benjamin


Traum und Leben
Es glühte der Tag, es glühte mein Herz,
Still trug ich mit mir herum den Schmerz.
Und als die Nacht kam, schlich ich fort
Zur blühenden Rose am stillen Ort.

Ich nahte mich leise und stumm wie das Grab;
Nur Tränen rollten die Wangen hinab;
Ich schaut in den Kelch der Rose hinein –
Da glomm’s hervor, wie ein glühender Schein. –

Und freudig entschlief ich beim Rosenbaum;
Da trieb sein Spiel ein neckender Traum:
Ich sah ein rosiges Mädchenbild,
Den Busen ein rosiges Mieder umhüllt.

Sie gab mir was Hübsches, recht goldig und weich;
Ich trug’s in ein goldenes Häuschen sogleich.
Im Häuschen, da geht es gar wunderlich bunt,
Da dreht sich ein Völkchen in zierlicher Rund‘.

Da tanzen zwölf Tänzer, ohn‘ Ruh‘ und Rast,
Sie haben sich fest bei den Händen gefaßt;
Und wenn ein Tanz zu enden begann,
So fängt ein andrer von vorne an.

Und es summt mir ins Ohr die Tanzmusik:
»Die schönste der Stunden kehrt nimmer zurück,
Dein ganzes Leben war nur ein Traum,
Und diese Stunde ein Traum im Traum.« –

Der Traum war aus, der Morgen graut,
Mein Auge schnell nach der Rose schaut –
O weh! statt des glühenden Fünkleins steckt
Im Kelche der Rose ein kaltes Insekt.
Heinrich Heine


Fast alle Träume antworten auf Fragen, die wir uns stellen, mit einer verwickelten Inszenierung, bei der sich die Antwort auf Personen verteilt, die das Licht des folgenden Morgens nicht mehr erblicken. Marcel Proust

Wolfgang Lettl – Rubicon, 1989 Lettl – Sammlung surreale Kunst, Augsburg

Die Nacht winkt vor dem Fenster,
der Mond schwimmt seine Bahn
auf meiner Seele Fluten
gemessen, wie ein Schwan.

Der Schnee schläft auf den Dächern,
darüber schläft ein Schein.
Zwölf Glockentöne kommen
wie Gäste mir herein.

In mir nun sind die Glocken
und diese Mondesglut;
ich werde weinen müssen,
doch das ist immer gut.

Ich bin nicht mehr hier drinnen,
ich hab’ mich aufgemacht,
ich trage dunkle Schwingen,
ich gleite durch die Nacht.

Ich werde wachsen, schwellen,
schon ist mir nichts mehr fern,
die Sterne sind mir Brüder,
ich selber bin ein Stern.

Auf Riesenflügeln brausend,
nun aller Welten Geist,
einschlürf’ ich Nacht und Räume,
von Stern und Stern umkreist.
Walter Calé


Das einzig lebenswerte Abenteuer kann für den modernen Menschen nur noch innen zu finden sein.
Carl Gustav Jung


Ich bin eine Harfe
mit goldenen Saiten,
auf einsamem Gipfel
über die Fluren
erhöht.

Du laß die Finger leise
und sanft darüber gleiten,
und Melodien werden
aufraunen
und aufrauschen,
wie nie noch Menschen hörten;
das wird ein heilig Klingen
über den Landen sein …

Ich bin eine Harfe
mit goldenen Saiten,
auf einsamem Gipfel
über die Fluren
erhöht –

und harre Deiner,
oh Priesterin!
daß meine Geheimnisse
aus mir brechen
und meine Tiefen
zu reden beginnen
und, wie ein Mantel,
meine Töne
um dich fallen,
ein Purpurmantel
der Unsterblichkeit.
Christian Morgenstern

David Burliuk – A dream

Die Kindheit, und noch mehr ihre Schrecken als ihre Entzückungen, nehmen im Traume wieder Flügel und Schimmer an und spielen wie Johanniswürmchen in der kleinen Nacht der Seele. Zerdrückt uns diese flatternden Funken nicht!
Jean Paul


Der Traum
Ich schlief. Da hatt‘ ich einen Traum.
Mein Ich verließ den Seelenraum.
Frei vom gemeinen Tagesleben,
Vermocht ich leicht dahinzuschweben.
So, angenehm mich fortbewegend,
Erreicht ich eine schöne Gegend.
Wohin ich schwebte, wuchs empor
Alsbald ein bunter Blumenflor,
Und lustig schwärmten um die Dolden
Viel tausend Falter, rot und golden.
Ganz nah auf einem Lilienstengel,
Einsam und sinnend, saß ein Engel,
Und weil das Land mir unbekannt,
Fragt ich: Wie nennt sich dieses Land?
Hier, sprach er, ändern sich die Dinge.
Du bist im Reich der Schmetterlinge.
Ich aber, wohlgemut und heiter,
Zog achtlos meines Weges weiter.
Da kam, wie ich so weiter glitt,
Ein Frauenbild und schwebte mit
Als ein willkommenes Geleite,
Anmutig lächelnd mir zur Seite,
Und um sie nie mehr loszulassen,
Dacht ich die Holde zu umfassen;
Doch eh ich Zeit dazu gefunden,
Schlüpft sie hinweg und ist verschwunden.
Mir war so schwül. Ich mußte trinken.
Nicht fern sah ich ein Bächlein blinken.
Ich bückte mich hinab zum Wasser.
Gleich faßt ein Arm, ein kalter, blasser,
Vom Grund herauf mich beim Genick.
Zwar zog ich eilig mich zurück,
Allein der Hals war steif und krumm,
Nur mühsam dreht ich ihn herum,
Und ach, wie war es rings umher
Auf einmal traurig, öd und leer.
Von Schmetterlingen nichts zu sehn,
Die Blumen, eben noch so schön,
Sämtlich verdorrt, zerknickt, verkrumpelt.
So bin ich seufzend fortgehumpelt,
Denn mit dem Fliegen, leicht und frei,
War es nun leider auch vorbei.
Urplötzlich springt aus einem Graben,
Begleitet vom Geschrei der Raben,
Mir eine Hexe auf den Nacken
Und spornt mich an mit ihren Hacken
Und macht sich schwer wie Bleigewichte
Und drückt und zwickt mich fast zunichte,
Bis daß ich matt und lendenlahm
Zu einem finstern Walde kam.
Ein Jägersmann, dürr von Gestalt,
Trat vor und rief ein dumpfes Halt.
Schon liegt ein Pfeil auf seinem Bogen,
Schon ist die Sehne straff gezogen.
Jetzt trifft er dich ins Herz, so dacht ich,
Und von dem Todesschreck erwacht ich
Und sprang vom Lager ungesäumt,
Sonst hätt‘ ich wohl noch mehr geträumt.
Wilhelm Busch

Ferdinand Hodler – Die Nacht, 1905


Im Traum
Ich ritt auf einem schwarzen Pferde
Durch die Nacht.
Ich ahnte nicht,
Daß das so stolz und traurig macht.
Ich war ein junger Edelmann,
Und hatte goldene Kleider an.
Doch auch der Sterne reiche Pracht.
Sie konnte mich nicht trösten.
Ich wußte nicht, woher ich kam.
Ich wußte nicht, wohin ich ritt.
Ich wußte nur, daß ich unsäglich litt.
Die Bäume und die Steine um mich waren fremd.
Und meine schweren Kleider
Froren wie ein Totenhemd.
Ich kannte meinen Namen nicht mehr,
Nicht mein Schloß.
Sehr weit schien mir ein Wunderbares,
Und versunken.
– Einmal hab ich doch auch mit Menschen
Schmerz und Lust getrunken? –

Jetzt bin ich mir so fremd und unenträtselt
Wie mein Roß.
Francisca Stoecklin


Über meinen gestrigen Traum
Wie kam ich gerade auf ein Gestirn?
Du sagst: Ich stöhnte träumend ganz laut.
Vielleicht steigt die Phantasie ins Hirn,
Wenn der Magen verdaut.

Man sollte kurz vorm Schlafengehen
Nichts essen. Auch war ich gestern bezecht.
Doch warum träume ich immer nur schlecht,
Nie gut. Das kann ich nicht verstehen.

Ob auf der Seite, ob auf dem Rücken
Oder auch auf dem Bauch – –
Immer nur Schlimmes. »Alpdrücken.«
Aber Name ist Schall und Rauch.

Meist von der Schule und vom Militär – –
Als ob ich schuldbeladen wär – –
Und wenn ich aufwache, schwitze ich,
Und manchmal kniee ich oder sitze ich,
Du weißt ja, wie neulich!
O, es ist greulich.

Warum man das überhaupt weitererzählt?
Hat doch niemand Vergnügen daran,
Weil man da frei heraus lügen kann. –
Aber so ein Traum quält.

Gestern hab ich noch anders geträumt:
Da waren etwa hundert Personen.
Die haben die Dachwohnung ausgeräumt,
Wo die Buchbinders wohnen.

Dann haben wir auf dem Dachsims getanzt.
Dann hast du mich, sagst du, aufgeweckt,
Und ich, sagst du, sagte noch träumend erschreckt:
»Ich habe ein Sternschnüppchen gepflanzt.«

Ich weiß nur noch: Ich war vom Dach
Plötzlich fort und bei dir und war wach.
Und du streicheltest mich wie ein Püppchen
Und fragtest mich – ach, so rührend war das –
Fragtest mich immer wieder: »Was
Hast du gepflanzt!? Ein Sternschnüppchen?«
Joachim Ringelnatz


Die ganze Anstrengung des Schreibens ist, die Qualität der eigenen Träume zu erreichen.
Heiner Müller


Der Schlaf entführte mich in deine Gärten,
In deinen Traum – die Nacht war wolkenschwarz umwunden –
Wie düstere Erden starrten deine Augenrunden,
Und deine Blicke waren Härten –

Und zwischen uns lag eine weite, steife
Tonlose Ebene…
Und meine Sehnsucht, hingegebene,
Küßt deinen Mund, die blassen Lippenstreife.
Else Lasker-Schüler

Balthus – Thèrése träumend, 1938

Sein Traum
Ich schlief, berauscht vom Bacchus,
Des Nachts auf Purpurdecken;
Da deuchte mirs im Traume,
Daß ich mit Schönen spielte;
Und daß ich auf den Zähen
In großer Eile liefe.
Da schimpfeten mich Knaben,
Die schön, wie Bacchus, waren,
Und dieser Schönen wegen,
Mir bittre Reden gaben.
Als ich sie nun zur Strafe
Ein paarmahl küssen wollte,
Entflohn sie mit dem Traume;
Und ich Einsamer wünschte
Von neuem einzuschlafen.
Anakreon


Und plötzlich bin ich aufgewacht.
Und in der Kammer war ein Licht.
Und, mir zum Schrecken und Gericht,
Stand da, was ich am Tag gedacht;

Was ich am Tag erhofft, erträumt,
So tatenscheu wie müden Sinns.
Es nickte mir: „Sieh her, ich bin’s –
Wie viel hast du um mich versäumt –“

„Um mich verrietest du die Tat,
Um die dein Leben leise bat –,
Du kannst nur blühn, du trägst nie Saat –“
Karl Röttger


„Das Leben ist ein Traum“. Nichts scheint mir zutreffender wie dieses altbekannte Gleichnis! Man gewöhnte sich im Traumland derart an das Unwahrscheinlichste, dass einem nichts mehr auffiel.
Alfred Kubin

Yiannis Tsaroychis – Davids Traum, 1968

Traum vom Fliegen
Und wieder mir träumte, ich wäre geflogen,
und diesesmal war es doch sicherlich wahr,
denn ich hatte so leicht wie die Luft ja gewogen
und hatte die Knie an den Körper gezogen,
und es ging wie im Flug, im beherztesten Bogen
hoch über der schwergewichtigen Schar,
es war keine Täuschung, ich war nicht betrogen,
es flogen die Stunden, die Tage, das Jahr.
Mit fliegenden Hoffnungen vollgesogen,
so wach‘ ich mit müderen Gliedern auf.
Zu Lande ist Leben; und angelogen,
vom leichtesten Trug an der Nase gezogen,
aus allen Himmeln zur Erde geflogen,
da lieg‘ ich, da liegen die Lügen zuhauf.
Und trotzdem bleib‘ ich dem Traume gewogen,
so läuft er sich leichter, der Lebenslauf.
Karl Kraus


Wenn ein Mensch im Traum
das Paradies durchwanderte
und man gäbe ihm eine Blume
als Beweis, dass er dort war,
und er fände beim Aufwachen diese
Blume in seiner Hand – was dann?
Samuel T. Coleridge


Lass mich einmal eine Nacht…
Lass mich einmal eine Nacht
Ohne böse Träume schlafen,
Der du mich aufs Meer gebracht,
Führ mich in den lichten Hafen!
Wo die großen Schiffe ruhn,
Wo die Lauten silbern klingen,
Wo auf weißen, seidnen Schuhn,
Heilige Kellnerinnen springen.
Wo es keine Ausfahrt gibt,
Wo wir alle jene trafen,
Die wir himmlisch einst geliebt –
Lass mich schlafen… lass mich schlafen…
Klabund


Kanarienvögleins Traum
Es bettet sich das Vögelein
In seinen eignen Flaum,
Es hüllet sich das Köpfchen ein,
Und träumt den schönsten Traum.
Vom blauen Himmel lebenslang,
Vom dunkelgrünen Hain,
Von seinem eigenen Gesang,
Harmonisch klingend, rein.
Von einer schönern, bessern Welt,
Bei stetem Sonnenschein,
Aus Morgenrot gewebt ein Zelt,
Darunter Groß und Klein.
Des Sängers gleichgestimmte Brust,
So treu und hochgesinnt,
In Wonne, überirdscher Lust,
Vereint die Sänger sind.
Ein schön Duett, so kühn und zart,
Wird aufgeführet bald,
Kein einz’ger Misston, rau und hart,
Aus ihren Kehlen schallt.
Nur Himmelslicht, Gerechtigkeit,
Nur Klarheit, – Himmels Bild,
Verschwunden Unbill, Neid und Leid,
Nur Englein strahlend mild.
Kanaria’s Flug, Kanaria’s Traum,
Im Himmel Sieben schwebt,
Erwachend aus dem eignen Flaum
Das Vöglein sich erhebt.
Des Käfig’s Wand, des Käfig’s Luft!
– Das Vöglein fasst sich schnell:
Die Wirklichkeit ist enge Kluft,
Der Traum ein Lebensquell.
Friederike Kempner

Wilhelm Morgner – Der Traum,1908

Das Leben ist ein Traum!
Wir schlüpfen in die Welt und schweben
Mit jungem Zehn
Und frischem Gaum
Auf ihrem Wehn
Und ihrem Schaum,
Bis wir nicht mehr an Erde kleben:
Und dann, was ist’s, was ist das Leben?
Das Leben ist ein Traum!
Das Leben ist ein Traum!
Wir lieben, uns’re Herzen schlagen,
Und Herz an Herz
Geschmolzen kaum,
Ist Lieb’ und Scherz
Ein lichter Schaum,
Ist hingeschwunden, weggetragen!
Was ist das Leben? hör’ ich fragen:
Das Leben ist ein Traum!
Das Leben ist ein Traum!
Wir denken, zweifeln, werden Weise;
Wir teilen ein
In Art und Raum,
In Licht und Schein,
In Kraut und Baum,
Studieren und gewinnen Preise;
Dann, nah’ am Grabe, sagen Greise:
Das Leben ist ein Traum!
Johann Wilhelm Ludwig Gleim


Einst träumte mir, Tschuang Tschou, ich sei ein
Schmetterling. Ein schwebender Schmetterling,
der sich wohl und wunschlos fühlte und nichts
wusste von Tschuang Tschou. Plötzlich erwachte
ich und merkte, dass ich wieder Tschuang Tschou
war. Nun weiss ich nicht, bin ich Tschuang Tschou,
dem träumte, ein Schmetterling zu sein, oder
bin ich ein Schmetterling, dem träumt, er sei
Tschuang Tschou.
Tschuang Tschou, Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, 4. Jh. v. Chr.


Der Traum
Ich schlief. Da hatt‘ ich einen Traum.
Mein Ich verließ den Seelenraum.
Frei vom gemeinen Tagesleben,
Vermocht ich leicht dahinzuschweben.
So, angenehm mich fortbewegend,
Erreicht ich eine schöne Gegend.
Wohin ich schwebte, wuchs empor
Alsbald ein bunter Blumenflor,
Und lustig schwärmten um die Dolden
Viel tausend Falter, rot und golden.
Ganz nah auf einem Lilienstengel,
Einsam und sinnend, saß ein Engel,
Und weil das Land mir unbekannt,
Fragt ich: Wie nennt sich dieses Land?
Hier, sprach er, ändern sich die Dinge.
Du bist im Reich der Schmetterlinge.
Ich aber, wohlgemut und heiter,
Zog achtlos meines Weges weiter.
Da kam, wie ich so weiter glitt,
Ein Frauenbild und schwebte mit
Als ein willkommenes Geleite,
Anmutig lächelnd mir zur Seite,
Und um sie nie mehr loszulassen,
Dacht ich die Holde zu umfassen;
Doch eh ich Zeit dazu gefunden,
Schlüpft sie hinweg und ist verschwunden.
Mir war so schwül. Ich musste trinken.
Nicht fern sah ich ein Bächlein blinken.
Ich bückte mich hinab zum Wasser.
Gleich fasst ein Arm, ein kalter, blasser,
Vom Grund herauf mich beim Genick.
Zwar zog ich eilig mich zurück,
Allein der Hals war steif und krumm,
Nur mühsam dreht ich ihn herum,
Und ach, wie war es rings umher
Auf einmal traurig, öd und leer.
Von Schmetterlingen nichts zu sehn,
Die Blumen, eben noch so schön,
Sämtlich verdorrt, zerknickt, verkrumpelt.
So bin ich seufzend fortgehumpelt,
Denn mit dem Fliegen, leicht und frei,
War es nun leider auch vorbei.
Urplötzlich springt aus einem Graben,
Begleitet vom Geschrei der Raben,
Mir eine Hexe auf den Nacken
Und spornt mich an mit ihren Hacken
Und macht sich schwer wie Bleigewichte
Und drückt und zwickt mich fast zunichte,
Bis dass ich matt und lendenlahm
Zu einem finstern Walde kam.
Ein Jägersmann, dürr von Gestalt,
Trat vor und rief ein dumpfes Halt.
Schon liegt ein Pfeil auf seinem Bogen,
Schon ist die Sehne straff gezogen.
Jetzt trifft er dich ins Herz, so dacht ich,
Und von dem Todesschreck erwacht ich
Und sprang vom Lager ungesäumt,
Sonst hätt‘ ich wohl noch mehr geträumt.
Wilhelm Busch

Henry Fuseli – Der Traum des Schäfers, 1786

Ein Traum
Wenn oft ich einsam saß und allein,
Dann wiegte der lieblichste Traum mich ein,
Sein weicher Arm mich liebend umschlang,
Sein Mund die süßesten Lieder sang.
Er legt’ auf’s Herz sich erfrischend und mild,
Wie Tau auf dürstende Blumen quillt,
Er säuselt‘ um mich wie im Schilfe der Wind
Und kühlte die brennende Stirne lind.
Er war so heiter, so golden schön,
Wie die Sonne strahlt um der Berge Höh’n,
Wenn sie noch einmal aus Wolken bricht,
Eh’ in Nacht versinket ihr glänzend Licht.
Umwoben von seinem Zauberband
Vergaß ich des Lebens Schmerz und Tand,
War reich von seliger Ahnung erfüllt,
Wie einst sich des Herzens Rätsel enthüllt.
Und wenn ich traurig und müde war,
Dann schloss ich zum Traume mein Augenpaar,
Und träumte Frieden mir in die Brust,
Bis nicht mehr des Schmerzes ich war bewusst,
Bis Himmelswonne die Seele durchzog –
Ach! dass der grausame Traum nur log;
Er ist dahin, das Erwachen war schwer,
Herz, mein Herz, o, träume nicht mehr!
Luise Büchner


Traumkitsch. Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume. Wer heut als Heinrich von  Ofterdingen erwacht, muss verschlafen haben. Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu
schreiben, und Einsicht in sie eröffnen, hiesse, den Aberglauben der Naturbefangenheit durch
die historische Erleuchtung entscheidend zu schlagen. Das Träumen hat an der Geschichte teil.
Die Traumstatistik würde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in die Dürre eines
Schlachtfeldes vorstossen. Träume haben Kriege befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und
Unrecht, ja Grenzen der Träume gesetzt. Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau
geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil. […]
Walter Benjamin, Traumkitsch


Träume
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die süß sind wie junger Wein.
Ich träume, es fallen die Blüten von Bäumen
und hüllen und decken mich ein.
Und alle diese Blüten,
sie werden zu Küssen,
die heiß sind wie roter Wein
und traurig wie Falter, die wissen: sie müssen
verlöschen im sterbenden Schein.
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die schwer sind wie müder Sand.
Ich träume, es fallen von sterbenden Bäumen
die Blätter in meine Hand.
Und alle diese Blätter,
sie werden zu Händen,
die zärteln wie rollender Sand
und müd sind wie Falter, die wissen: sie enden
noch eh‘ sie ein Sonnenstrahl fand.
Es sind meine Nächte
durchflochten von Träumen,
die blau sind wie Sehnsuchtsweh.
Ich träume, es fallen von allen Bäumen
Flocken von klingendem Schnee.
Und all diese Flocken
sie werden zu Tränen.
Ich weinte sie heiß und wirr –
begreif meine Träume, Geliebter, sie sehnen
sich alle nur ewig nach dir.
Selma Meerbaum-Eisinger


Der erbärmlichste unter den Menschen ist der, der seine Träume in Gold und Silber verwandelt.
Khalil Gibran


Der Traumgott
Laura schließt die holden Augenlider,
Meine Himmelstüren tun sich zu;
Komm, o lieber Traumgott, komm hernieder
Und versüße ihre Ruh‘!

Zeige ihr der Schönheit höchste Blüte,
Wie sie steht im himmlischen Gefild,
Sanft verschmolzen mit der reinsten Güte –
Zeige ihr dein schönstes Bild!

Und der Gott erhörte meine Bitte,
Und er schwebte nieder lind und mild,
Nahte ihr mit zephirleichtem Schritte,
Und sie sah – ihr eignes BIld.
Christian Friedrich Hebbel


Der Traum
Im schönsten Garten wallten
Zwei Buhlen Hand in Hand,
Zwo bleiche, kranke Gestalten,
Sie saßen ins Blumenland.

Sie küßten sich auf die Wangen
Und küßten sich auf den Mund,
Sie hielten sich fest umfangen,
Sie wurden jung und gesund.

Zwei Glöcklein klangen helle,
Der Traum entschwand zur Stund;
Sie lag in der Klosterzelle,
Er fern in Turmes Grund.
Ludwig Uhland

Luis González Palma Ara Solis3

Luis González Palma – Ara Solis3

Den 15. Januar 1848
Träumte die halbe Nacht von einem silbernen Armband. Das Mittelstück desselben bildete ein alter feiner Zürcher Gulden, auf welchem die alte Stadt Zürich mit ihren Türmen geprägt war; das übrige Band bestand aus künstlich gearbeiteten Kettchen und Gliedern von der schönsten Formen und Verhältnissen. Ich spielte sehr vergnügt mit diesem sonderbaren Schmuck und schämte mich nicht, mein Handgelenk damit zu zieren, gleich einem Mädchen. Gegen Morgen wollte mir jemand das Band wegnehmen und ich zankte darum, bis ich erwachte. Übrigens erinnere ich mich jetzt wirklich eines silbernen Armbandes von zwei Jahren her, an welches sich Beziehungen knüpfen. Sah auch eine herrliche Landschaft, wo die Ströme leuchteten, wie Edelsteine, die Berge und die Vegetation waren von den wunderbarsten Formen. Als ich in der Nacht mitten aus dieser Natur aufwachte, glaubte ich alle Linien so fest in mir bewahren zu können, dass ich sie am Morgen nur gleich zeichnen möge; aber nachher schlief ich wieder ein, und jetzt habe ich nichts mehr, als den allgemeinen angenehmen Eindruck. Wenn ich am Tage nichts arbeite, so schafft die Phantasie im Schlafe auf eigene Faust; aber das neckische liebe Gespenst nimmt seine Schöpfungen mit sich hinweg und verwischt sorgfältig alle Spuren seines spukhaften Wirkens.
Gottfried Keller, Traumbuch


Nachtphantasien
Ich sah mich in Träumen der Mitternacht
Verlassen und verachtet!
Des Auges milde Glut und Pracht,
Das liebend einst über mir gewacht,
Ich sah es von Haß umnachtet!

Mir malte der irre Gedankenflug
Gestalten bleich und trübe!
Ich sah einen finstern Leichenzug;
Die Leiche, die man vorübertrug,
War uns’re gestorbene Liebe.

Entflieh‘, du gespenstische Mitternacht!
Entflieht, ihr blassen Gestalten!
Bis der selige, fröhliche Tag erwacht,
Bis Leben und Liebe mit frischer Macht
Mich jauchzend umschlungen halten.

Wie liebt‘ ich die schöne, heilige Nacht,
Wenn die bösen Träume nicht wären!
Unheimlicher Geister wilde Jagd
Verfolgt mich, bis ich, vom Schlaf erwacht,
Mich bade in heißen Zähren.

Ich fühl‘ mich allein in der weiten Welt;
Was ich liebe, ist fremd und ferne!
Da scheint mir der Mond am Himmelszelt
Ein spähender Lauscher hingestellt,
Und Spione die ewigen Sterne!

Ich liebe die Nacht; ich liebe die Nacht!
Doch nicht die einsame, trübe!
Nein, die aus seligen Augen lacht,
In flammender Pracht, in Zaubermacht,
Die heilige Nacht der Liebe.
Louise Franziska Aston

Jusepe de Ribera – Jakobs Traum, 1639

… einmal, dass sie einen Schlaf hat wie ein Murmeltier, zweitens, dass sie, wie ein Jagdhund, immer träumt, und drittens, dass sie im Schlaf spricht; und auf diese Eigenschaften hin,will ich meinen Versuch gründen.
Heinrich von Kleist, Das Käthchen von Heilbronn


Mein vertrauter Traum
Ich träume wieder von der Unbekannten,
Die schon so oft im Traum vor mir gestanden.

Wir lieben uns, sie streicht das wirre Haar
Mir aus der Stirn mit Händen wunderbar.

Und sie versteht mein rätselhaftes Wesen
Und kann in meinem dunklen Herzen lesen.

Du fragst mich: Ist sie blond? Ich weiß es nicht.
Doch wie ein Märchen ist ihr Angesicht.

Und wie sie heißt? Ich weiß es nicht. Doch es klingt
Ihr Name süß, wie wenn die Ferne singt –

Wie eines Name, den du Liebling heißt,
Und den du ferne und verloren weißt.

Und ihrer Stimme Ton ist dunkelfarben
Wie Stimmen von Geliebten, die uns starben.
Paul Verlaine


Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh‘,
Ihn schläfert; mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.

Er träumt von einer Palme,
Die, fern im Morgenland,
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand.
Heinrich Heine


Halbschlaf
Bevor ich war und wenn ich nicht mehr bin,
wie war ich da, wie werde ich da sein?
Zuweilen dringen Duft und Rausch und Schein
vom Ende her und von dem Anbeginn.

Hab‘ ich geschlafen? Eben schlaf ich ein,
und nun verwaltet mich ein andrer Sinn,
noch bin ich außerhalb, schon bin ich drin,
noch weiß ich es, und füge mich schon drein.

Dies Ding dort ruft, als hätt‘ ich’s oft geschaut,
und dies da blickt wie ein vertrauter Ton,
und an den Wänden wird es bunt und laut.

Dort wartet lang‘ mein ungeborner Sohn,
hier stellt sich vor die vorbestimmte Braut,
und was ich damals war, das bin ich schon.
Karl Kraus


Der du mit deinem Mohne
Selbst Götteraugen zwingst
Und Bettler oft zum Throne,
Zum Mädchen Schäfer bringst,
Vernimm: Kein Traumgespinste
Verlang ich heut von dir.
Johann Wolfgang von Goethe


Traumglück
Und wenn du schläfst und träumst von mir
Dann komm ich still gegangen
Und leg‘ mein weinendes Gesicht
An deine braunen Wangen.

Und nehme scheu dein schlafend Haupt
In meine beiden Hände
Und denk, wir wären beide todt,
Und alles wär‘ zu Ende.

Die Ahnung meiner Nähe hebt
Wir wohl die trunk’nen Lider,
Ich aber küsse sie dir zu
Und gehe heimlich wieder.

Und wenn du morgens dann erwachst,
Liegt wohl ein blasser Schimmer
Von Traumglück und verweinter Lust
Noch über deinem Zimmer.
Anna Ritter

Tsuguharu Foujita – Mein Traum, 1947

Der Traumgott
Laura schließt die holden Augenlider,
Meine Himmelstüren tun sich zu;
Komm, o lieber Traumgott, komm hernieder
Und versüße ihre Ruh‘!

Zeige ihr der Schönheit höchste Blüte,
Wie sie steht im himmlischen Gefild,
Sanft verschmolzen mit der reinsten Güte –
Zeige ihr dein schönstes Bild!

Und der Gott erhörte meine Bitte,
Und er schwebte nieder lind und mild,
Nahte ihr mit zephirleichtem Schritte,
Und sie sah – ihr eignes BIld.
Christian Friedrich Hebbel


Geh nach Hause, armer Knabe,
Leg dich nieder, weh verliebt.
Träume von der Himmelsgabe,
Die der Himmel dir nicht gibt.
Träume von den blonden Flechten,
Die du nur als Schnecken siehst.
Hadre mit dem ungerechten
Schicksal, dem kein Glück entsprießt.
Irgendwo ziehn weiche Glieder,
Lippen, süß zum Kuß und rund,
Irgendwen in Liebe nieder. –
Träum den Leib und träum den Mund!
Träumend darfst du dich vergeuden.
Träum in üppiger Phantasie
Deiner Liebe letzte Freuden. –
Träume, Freund, enttäuschen nie.
Erich Mühsam


Venus Mater
Träume, träume, du mein süßes Leben,
von dem Himmel, der die Blumen bringt;
Blüten schimmern da, die beben
von dem Lied, das deine Mutter singt.

Träume, träume, Knospe meiner Sorgen,
von dem Tage, da die Blume sproß;
von dem hellen Blütenmorgen,
da dein Seelchen sich der Welt erschloß.

Träume, träume, Blüte meiner Liebe,
von der stillen, von der heiligen Nacht,
da die Blume Seiner Liebe
diese Welt zum Himmel mir gemacht.
Richard Dehmel


An die Träume
Bunte Kinder schwarzer Nacht,
Die ihr Lebensmüden
Oft das Leben reizend macht,
Und mit süßem Frieden

Gern den Traurenden erfreut,
Und dem Hoffnungslosen
Eure Rosenlauben leiht,
Wo ihn Freuden kosen,

Webt aus sanfter Phantasie,
Aus den schönsten Bildern,
Hold wie Engel Melodie,
Wenn sie Himmel schildern –

Ruhig wie des Morgens Gruß,
Wie des Abends Wehen –
Leise, wie der Weste Kuß,
Wie der Elbe Blähen –

Reizend, wie sein eignes Bild –
Träume meinem Holden;
Liebe, die mein Herz erfüllt,
Soll den Traum vergolden.
Sophie Albrecht

Ferdinand Hodler – Der Traum, 1897

Traurige Nachtklage
Hin ist der Tag, die Nacht bricht an,
Man siehet schon die Sternlein schimmern;
Itz schau′ ich, was die Venus kan
Und wie der Mond beginnt zu glimmern;
Die ganze Welt ligt in der Ruh,
Es schläft der Mensche mit den Thieren,
Kein Vogel hört man tireliren;
Allein ich thu′ kein Auge zu.

Ich geh′ ins weite Feld hinein,
Mit tausend Lichtern überstralet,
Und sehe, wie des Monden Schein
Den Erdenkreiß im Dunklen malet;
Es ist doch alles trefflich stil,
Ich höre nichts als Frösche schreien,
Kan doch von Unmut nicht befreien
Mein Herz, das ganz zerspringen wil.

Ich sehe bei dem Mondenlicht
Die Hütten meiner Schäferinnen,
Die mir zu Liebe wachet nicht
Und dennoch zwinget meine Sinnen;
Sie machet mich der Schmerzen vol
Und weiß doch selber nicht von Schmerzen;
Ich leide Qual in meinem Herzen,
Sie aber ruhet sanft und wol.

Sie hat der zarten Hände Schnee
Fein kreuzweis auf der Decke ligen,
Das weiß ich, ob ichs gleich nicht seh′,
Auch mich nicht darf zu ihr verfügen;
Sie blaset eine süße Luft
Aus ihrem rosenfarben Munde;
Ich aber fühle diese Stunde,
Wie mir mein Herz vor Aengsten pufft.

Der Augen Blitz verbirgt sich zwar,
Dieweil ihr′ Häublein sich geschlossen,
Und gleichwol werden mit Gefahr
Viel starker Pfeil′ heraus geschossen;
Mein Lieb schont auch im Schlafe nicht:
Sie ruhet und kan doch im Schweigen
Mir Armen solche Stärk′ erzeigen,
Daß mir mein Herz dadurch zerbricht.

Mein′ Hirtin siehet zwar im Traum
Den armen Dafnis vor ihr schweben
Sehr hochbetrübt und wil doch kaum
Ein freundlich Wort demselben geben.
Ach, Schönste, merk auch meine Pein,
Kan ich dich wachend nicht bewegen,
So laß mich, wenn du dich must legen
Und lieblich träumest, bei dir sein.

Wirf dich herüm und kehre doch
Dein Antlitz gegen mich Verliebten.
Ach, Allerschönste, schläfst du noch,
Vernimmst du nicht mich Hochbetrübten?
Nein, nein, ich bin zu weit von dir,
Unmüglich ist es, dich zu sehen.
Wie? kan es denn auch nicht geschehen,
Ein Seufzerlein zu senden mir?

Du heller Mond, zieh′ mich hinauf
Und laß mich dir zur Seiten schweben.
Was gilts, du hemmest bald den Lauf,
Wenn ich dir zeige dort mein Leben!
Du stralest recht auf ihr Gezelt.
Ach, küsse nicht die Purpurwangen,
Nur schaue doch im Schlafe prangen
Das schönste Bild der ganzen Welt.

Was sagst du? komm′ ich nicht zu dir?
Nein, nein, du wilt allein betrachten
Der Florabellen Wunderzier,
Du wilt an ihrer Brust benachten.
Ach, daß ich nicht der Mond kan sein!
Ich wolt′ in deinem Zimmer bleiben,
Mein Lieb, es solte mich vertreiben
Kein Schlaf noch klarer Sonnenschein.

Hilft denn mein Wünschen nirgends zu,
Darf ich mich länger hier nicht säumen,
So wil ich dich in stiller Ruh
Auf deinem Lager lassen träumen.
Du wertes Hüttlein, gute Nacht,
Ich gehe durch die Wälder klagen.
Ach, Florabella, laß mirs sagen,
Wenn du mit Freuden bist erwacht.
Joachim Ringelnatz